Die große Krise – Warum Jugendliche plötzlich verschwinden

Zwischen 15 und 18 – ein problematisches Alter. Es ist die kurze Wegstrecke zwischen Kindsein und Erwachsenwerden – die Hochphase der Pubertät. Wenn ein Jugendlicher verschwindet, hat das in den seltensten Fällen mit einem Verbrechen zu tun. Es ist ein Ausklinken aus der familiären Gemeinschaft, das in aller Regel nach wenigen Tagen schon beendet ist. Je nach Mentalität. Erstens wollte man den „nervigen Alten“ nur mal einen Denkzettel verpassen. Und zweitens ist es für     einen Teenie gar nicht so einfach, plötzlich auf sich allein gestellt zu sein. Auch wenn man sich eigentlich schon stark und erwachsen fühlt. Darüber machen sich die wenigsten Ausreißer zunächst Gedanken. Und genauso wenig darüber, wie die Eltern mit dem plötzlichen Verschwinden ihres Sohnes oder ihrer Tochter klar kommen.

Die Gründe, warum Jugendliche ausreißen, sind vielschichtig. Meist ist es ein lange schwelender Konflikt und schließlich der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Der Generationenkonflikt – er ist so alt wie die Menschheit. Die Jungen werden ungeduldig, sehen Manches anders als die Älteren, wollen Vieles anders machen, rebellieren gegen „althergebrachte Traditionen“. Doch so alt sind die eigentlich ja nicht. Denn ihren Eltern ging es früher ja genauso. Und deren Eltern auch … Eigentlich unlogisch, dass in den meisten Familien dieses Unverständnis zwischen Alt und Jung herrscht, das dann gelegentlich zum Ausscheren der Jungen aus der Gemeinschaft führt.

Wirklich alles paletti?
Viele Eltern wollen nicht wahr haben, dass solche Spannungen in ihrer Familie herrschen. Eine Standard-Aussage, wie sie Polizisten bei der Aufnahme der Vermisstenanzeige regelmäßig zu hören bekommen: „In unserer Familie ist alles in Ordnung.“ Egal ob es sich um deutsche Familien oder ausländische Mitbürger handelt: Probleme zwischen Alt und Jung gibt es überall und sie sind überall gleich.

Änderungen erfahren im Laufe der Zeit allerdings die Grundbedingungen, unter denen ein Familienleben funktioniert. Bestand früher eine strikte Aufgabenteilung – Mutter zu Hause, Vater in der Arbeit – sind heute oft beide berufstätig. Oder es existiert überhaupt nur ein Elternteil, der für den Lebensunterhalt aufkommen muss. Die Jugendlichen sind sich selbst überlassen, am Nachmittag weitgehend ohne Betreuung. Die Zahl der „Schlüsselkinder“ – wie man solche Jugendlichen früher nannte – hat in den letzten Jahren stark zugenommen.

Dabei haben Jugendliche gerade in dem kritischen Alter – auch wenn es vordergründig oft nicht so aussieht – ein erhöhtes Bedürfnis, mit den Erwachsenen zu reden, Meinungen und Ratschläge einzuholen, Trost und Zuwendung (sprich: Interesse) zu erfahren. Am Abend, wenn die Eltern sich von den eigenen Strapazen erholen wollen, bleibt dazu oft keine Zeit.

Fluchtpunkt Berlin
Jugendliche Ausreißer kommen aus allen sozialen Schichten. Wer sich von zu Hause absetzt, sieht zu, dass er aus der „Enge“ seiner     Umgebung herauskommt. Am besten in eine andere Stadt. Je größer die Stadt, desto kleiner die Chance, Ausreißer zu finden. Das ist wohl auch einer der Gründe, warum Berlin eine besondere Anziehungskraft auf Jugendliche hat. Außerdem ist dort immer was los. Da pulsiert das Leben -Tag und Nacht.

Was Jugendliche dabei oft verkennen: Solche Großstädte sind auch besondere Gefahrenherde. Schnell rutschen „abgängige“ Jugendliche – wie es im Behördendeutsch heißt – in die Kriminalität ab. Entweder als Opfer oder als Täter. Die Drogenszene etwa ist nirgends so ausgeprägt und offen wie in den Metropolen. Die Jugendlichen brauchen Geld und eine Unterkunft. Unter jungen Leuten auf der Straße herrscht eine eigene Form von Hilfsbereitschaft. Wer keine großen Ansprüche stellt, findet immer einen kostenlosen Schlafplatz. Allerdings wimmelt es hier auch von falschen Freunden, die dann plötzlich gewisse Gegenleistungen verlangen. Für manchen Ausreißer der Beginn einer äußerst zweifelhaften Karriere im Prostituierten- oder Strichermilieu.

Das Schweigen
Die Polizei erfährt von solchen Negativ-Erfahrungen der Ausreißer höchst selten. Wenn ein Jugendlicher zurückkehrt, wird er routinemäßig vernommen, um den Vorgang abzuschließen. Auf die Frage, wo die Heimkehrer übernachtet haben – Schweigen. Auch in der Familie spricht man darüber nicht. Die Eltern sind froh, ihren Sprössling zurück zu haben. Man geht – zumindest in der nächsten Zeit – behutsam miteinander um. Nur keine Aufregung! Früher oder später geht man dann wieder zur gewohnten Tagesordnung über. Wenn sie nicht sofort darüber reden (das können die Wenigsten), werden die Jugendlichen ihre Erlebnisse wieder einmal alleine verarbeiten müssen – vielleicht ein Leben lang.

Essensausgabe

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