Das Nachdenken über den Todesschuss

Ein Polizist tötet eine verwirrte Frau - tat die "Nothilfe" wirlich Not?

Berlin (dapd). Ein Polizist erschießt eine mit einem Messer bewaffnete Frau, die aus dem Ruder gelaufen ist. Wie soll man das alles – mit ein paar Tagen Abstand – bewerten?

Um den Fall einzuordnen, ist es notwendig, den bisher bekannten Ablauf des Geschehens im Detail zu betrachten: Eine psychisch kranke Frau soll zwangsweise zu einem Termin ins Amtsgericht Berlin-Wedding gebracht werden, weil sie mehrere Vorladungen missachtet hat. Eine Mitarbeiterin des Bezirksamtes und zwei Polizisten machen sich auf den Weg zur Wohnung der Frau, in der wenig später ein tödlicher Schuss fällt.

Schon hier stellen sich die ersten Fragen. Psychisch kranke Menschen sind oft schwer berechenbar, sie sind ängstlich, aggressiv oder beides. Das in Paragraf 32 des Strafgesetzbuches festgehaltene Notwehrrecht ist nach Ansicht vieler Juristen eingeschränkt, wenn es um Angriffe schuldlos handelnder Personen wie Kinder oder Schuldunfähiger geht.

Der Kriminologe Professor Thomas Feltes von der Ruhr-Universtität Bochum sagte der Nachrichtenagentur dapd: «Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofes hat der Polizeibeamte eine Pflicht zum Ausweichen, wenn der Angreifer offensichtlich im schuldausschließenden Zustand gehandelt hat.»

Leitfaden fordert beruhigendes Verhalten
In der Rechtsprechung schwingt also eine besondere Aufforderung zu angemessenem Handeln in solchen Fällen mit. Auch der Leitfaden 371, eine Richtlinie für die polizeiliche Arbeit, gibt dazu klare Hinweise. Darin heißt es unter anderem: Von psychisch Kranken könnte eine «besondere Gefahr» ausgehen. Es wird darauf hingewiesen, dass
starke Stimmungsschwankungen auftreten können, dass ruhiges Verhalten plötzlich in Aggressivität umschlagen kann.

Und es gibt konkrete Handlungsanweisungen wie etwa: Beamte sollten sich Zeit nehmen und beruhigend auf den Betroffenen einwirken. Es gibt einen Hinweis darauf, dass solche Personen möglicherweise untypisch auf den Einsatz von Reizstoffen reagieren. Und den Hinweis, im Zweifelsfall Fach- oder Spezialkräfte anzufordern.

Wie waren die Beamten im konkreten Fall vorbereitet? Hatten sie versucht, einen vertrauten Arzt der Kranken zu erreichen? Er hätte möglicherweise beruhigend auf sie einwirken können. Die gleiche Frage stellt sich bei Familienangehörigen. Wurde ein Psychologe angefordert, oder warum nicht? Wie haben die Polizisten und die Behördenmitarbeiterin versucht, die Frau zu beruhigen?

Was, wenn die Sache eskaliert?
Offenbar spitzte sich die Situation schnell zu. Die Frau wehrte sich mit einem Messer in der Hand. Die Polizisten setzten Pfefferspray ein, das verzögert nach Angaben von Polizeiexperten teilweise erst nach etwa 90 Sekunden wirkt. Die Frau verletzte einen Beamten leicht und zog sich dann offenbar in ein Zimmer zurück. Die Polizisten riefen Verstärkung.

Spätestens jetzt mussten sie wissen, dass die Situation hochkomplex und gefährlich war. Sie hätten, darauf weist der Leitfaden 371 hin, auch damit rechnen müssen, dass die Frau nach dem Pfefferspray-Einsatz besonders aggressiv sein konnte. Wie haben sie daraufhin reagiert? Wie haben sie sich darauf vorbereitet, nach dem Auframmen der Tür auf eine Frau mit einem Messer in der Hand zu treffen? Haben sie nach dieser Eskalation versucht, Ärzte, Psychologen oder Vertraute der Frau zu erreichen?

Wenn nein: Warum nicht? Warum erschienen als Verstärkung Polizisten einer Einsatzhundertschaft und nicht die Spezialisten des Spezialeinsatzkommandos?

War das Auframmen der Tür verhältnismäßig?
War es überhaupt nötig, die Tür mit einer Ramme aufzubrechen? Die Frau befand sich praktisch in Gewahrsam, konnte nicht hinaus und stellte keine Gefahr für Dritte dar. Bestand konkrete Suizidgefahr? Wenn nicht, stellt sich die Frage, ob das Auframmen der Tür verhältnismäßig war. Und wenn ja: Trugen sie angesichts des erwartbaren Messerangriffs Schutzwesten?

Nach offiziellen Angaben standen an diesem Punkt vier Polizisten, mindestens einer von ihnen sehr erfahren, vor der verschlossenen Tür. Jeder von ihnen muss während seiner Ausbildung intensiv Selbstverteidigungstechniken gelernt haben. Dazu gehört in aller Regel die Abwehr gezielter Messerangriffe. Auch bei Weiterbildungskursen sollte das auf dem Programm stehen.

Als die Beamten die Tür aufgerammt hatten, stürmte die Frau, soweit es von den Behörden bisher kommuniziert wurde, aus einer Zimmerecke gebückt auf einen durch einen Schild geschützten Beamten zu. Der sei ins Straucheln geraten. Offenbar in der Annahme einer konkreten Gefahr für seinen Kollegen schoss einer der Beamten auf die Frau. Die Frage, warum er nicht ein Bein traf, sondern den Rumpf der Frau, dürfte die Staatsanwaltschaft beschäftigen.

Ausbildung entspricht nicht der Lebenswirklichkeit
Die Frage, ob die Beamten taktisch richtig gehandelt haben, untersucht die Staatsanwaltschaft nach eigenen Angaben nicht. Etwa, ob sie vorher überlegt hatten, wie sie zu viert auf engem Raum einem möglichen Angriff begegnen? Haben sie sich also angesichts der in einem verschlossenen Raum befindlichen Frau angemessen auf das Eindringen vorbereitet?

Viele der sich aufdrängenden Fragen dürften in Deutschland an Bedeutung gewinnen. Angesichts der älter werdenden Bevölkerung werden Fälle von Demenz und daraus folgende Zwangsmaßnahmen zunehmen. Vor diesem Hintergrund drängen sich Fragen zu Ausbildung und Ausrüstung der Polizei auf. Für den Kriminologen Feltes belegen solche Fälle, «dass die Aus- und Fortbildung von Polizisten häufig nicht mehr der heutigen Lebenswirklichkeit entspricht – und dass die Beamten für derartige Einsätze zu schlecht ausgerüstet sind».

28.08.2011 dv