Berlin (dv). Es war ein normaler Feierabend für Andrea N. Die Verkäuferin hatte abgerechnet, dann mit einer Freundin den Möbelmarkt, in dem sie arbeitet, verlassen. Die Beiden waren noch ins Café um die Ecke gegangen und hatten einen schnellen Cappuccino genommen. Dann ab nach Hause.
U-Bahn in Richtung Berliner Süden. Recht viele Menschen im Zug. Touristen. Menschen auf dem Heimweg. Leute auf dem Weg ins Nachtleben.
Herrmannplatz. Da wischte der junge Mann an Andrea N. vorbei. Grabschte sich ihre Handtasche, raste auf den Bahnsteig und in Richtung Ausgang.
Halt!“, rief sie noch – doch natürlich blieb er nicht stehen. Also machte sich Andrea N. an die Verfolgung.
Immer auf den Fersen bleiben
Das ist jetzt ein paar Tage her. Andrea N. erzählt von ihrem Abenteuer, als wäre es ein netter Sonntagsausflug gewesen. „“Was hätte ich machen sollen? In der Handtasche waren meine Schlüssel, Kreditkarten, fast hundert Euro. Das gibt man doch nicht einfach her. Unten in der U-Bahn hatte ich noch keinen Plan. Aber als ich dem Kerl nachlief, merkte ich schnell, dass ich ihn mir früher oder später schnappen würde. Der war mir nicht gewachsen.“
Sie hat alles richtig gemacht. Rannte im vernünftigen Abstand hinter dem flüchtenden jungen Mann her – und brüllte. „Haltet ihn! Der hat mir die Tasche geklaut.“
Was muss das für ein Stress für den Kerl gewesen sein! Da rannte er die Herrmannstraße lang und hatte immer dieses Geschrei in den Ohren. „Haltet ihn! Der hat mir die Tasche geklaut.“
Die Herrmannstraße ist vierspurig und auch um zehn Uhr abends noch gut bevölkert. Der Dieb musste Haken um Menschen schlagen, die sich ihm in den Weg stellten. Er hetzte vorbei an den Erotikgeschäften und türkischen Hochzeitsläden, an den Apotheken mit den Sonderangeboten für Kraftpulver, an den Internet-Cafés. Der Atem wurde kürzer und kürzer. Und hinter ihm immer noch diese gellende Stimme: „Haltet ihn!“
An die Falsche geraten
„Ja, der Typ hat eben nicht geahnt, wen er da beklaut hat“, sagt Andrea, einen Meter 72 groß und 60 Kilo leicht. Sie läuft den Marathon in unter drei Stunden. Gelernt hat sie das noch in der DDR. Da war sie eine der talentiertesten Nachwuchsathletinnen auf den langen Strecken.
So ein bisschen Hinterher-Joggen auf der Herrmannstraße und dazu „Haltet-ihn!“-Brüllen – für Andrea N. ist das eine der leichtesten Übungen.
Nach zwei Kilometern passierte der Räuber keuchend eine Tankstelle. Er hatte fürchterlichen Durst und konnte sich kaum noch auf den Beinen halten.
Einen halben Kilometer später ging es durch den Tunnel unter dem Südring der S-Bahn. Er rannte auf der linken Seite der Straße, sie auf der rechten. Nach der Unterführung musste er ein paar Meter bergauf. Aber nichts ging mehr. 2500 Meter war der junge Mann noch nie am Stück gelaufen.
Er blieb stehen. Stützte die Hände auf die Oberschenkel und japste nach Luft.
„Haltet ihn!“
Der Mann von der Döner-Bude an der Unterführung ist einsneunzig groß und hundert Kilo schwer. Er schlenderte zu dem um Luft ringenden Ganoven, nahm ihn beim Kragen und meinte. „Schluss jetzt. Du bleibst hier.“
Und er hielt den Burschen fest, bis die Polizei kam.
Andrea N. nahm ihre Handtasche gleich mit. Soweit war dann wohl alles glatt gegangen. Nur eins ärgerte die Verkäuferin: Wegen der Verfolgungsjagd hatte sie ihre Lieblingsserie verpasst. Da geht es immer um Verbrechen in New York. Und Andrea N. mag es ganz gern, wenn es sie beim Gucken ein wenig gruselt.
18.08.2010 dv
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