Wiesbaden (dapd). Nächste Woche beginnt ein Verfahren gegen militante Neonazis: Vier Männer sollen in der Nacht zum 5. März 2010 einen Molotowcocktail auf das Wohnhaus eines Anti-Nazi-Aktivisten in Wetzlar geworfen haben – zur Tatzeit schliefen eine Frau und drei Kinder in dem Haus. Dass niemand verletzt wurde, war Glück.
Gerichtsverhandlungen wie diese steigern die Chance, dass sich Anhänger von der rechtsextremen Szene lossagen. Das Projekt Ikarus“ des hessischen Landeskriminalamts registriert schließlich nach Gewaltexzessen mehr Anfragen als sonst.
Nach dem brutalen Überfall der Kameradschaft „Freie Kräfte Schwalm-Eder“ auf ein Sommercamp der Linksjugend vor zwei Jahren zum Beispiel stieg Zahl derjenigen, die der Szene den Rücken kehren wollten, merkbar. „Es gab eine höhere Frequenz an Ausstiegsprozessen“, sagt Hauptkommissar Peter Korstian. Dieser Effekt trete jedoch nicht plötzlich auf, sondern sei ein lang andauernder Prozess. „Die Strahlkraft einer solchen Tat kann sich über einen längeren Zeitraum erstrecken.“
Der LKA-Mann geht davon aus, dass auch der Brandanschlag in Wetzlar nicht ohne Auswirkungen auf die Szene bleiben wird – vor allem auf Mitläufer, die nicht so stark in der rechten Ideologie verfestigt sind.
Rechte Straftat verstärkt sozialen Druck
Einige von ihnen seien vielleicht am Rande dabei gewesen, eine Straftat gehe ihnen aber zu weit. „Nach so einer Tat verstärkt sich auch der soziale Druck“, berichtet der Kommissar. Wenn die Zugehörigkeit zur rechten Szene öffentlich wird, fürchten einige Anhänger den Verlust des Arbeitsplatzes oder die Ausgrenzung im Verein.
Auch Eltern werden nach so einer Tat misstrauischer. Durch Berichte in der Zeitung erkennen sie zum Beispiel beliebte Symbole von Neonazis auf einem Pullover ihres Sohnes wieder. In einigen Fällen greifen Eltern zum Telefon und wenden sich an die Hotline des Aussteigerprojekts.
Allerdings betont der Fachmann auch: „Das ist kein Massenangebot.“ In den letzten knapp drei Jahren wurden 21 Personen fest in das Programm aufgenommen. Doch nicht jeder Neonazi steigt mit Hilfe eines Programms aus. Einige Anhänger distanzierten sich mit der Zeit von selbst von der Szene, sagt Korstian. Eine neue Freundin oder ein neuer Job könnten den Ausschlag geben.
Das Aussteigerprojekt ist eher etwas für Menschen aus einem „defizitären bis desolaten Umfeld“, wie das im Fachjargon heißt. Mit anderen Worten: Sie haben häufig eine schlechte Schulbildung, Schulden, Alkoholprobleme und neigen zu Gewaltexzessen. Wenn dann noch ein Gerichtsverfahren dazu kommt, wächst ihnen schnell alles über den Kopf – und sie suchen Hilfe. Der Kontakt zum Aussteigerprojekt wird auch über Polizisten, Richter oder Bewährungshelfer hergestellt.
Gewaltbereitschaft in der Szene steigt
Der hessische Verfassungsschutz beobachtet seit einiger Zeit eine steigende Gewaltbereitschaft in der Kameradschaftsszene. Der neue Behördenchef Roland Desch führt diese Entwicklung darauf zurück, dass die NPD an Einfluss verliert. „Die NPD hatte eine sammelnde Funktion“, sagt Desch. Die Partei habe versucht, die freien Kräfte an sich zu binden, um in die Parlamente zu kommen. Da der Erfolg ausgeblieben sei, versuchten die Kameradschaften es jetzt auf einem anderen Weg. „Damit wächst die Bereitschaft, Straftaten zu verüben“, berichtet der Verfassungsschutzchef. Die Entwicklung sei individuell geprägt und trete regional sehr unterschiedlich auf.
Wie ernst meint es einer?
Auch wenn ein Neonazi den Kontakt zum Aussteigerprojekt sucht, so wird er deshalb noch lange nicht automatisch aufgenommen. „Wir prüfen ganz genau, ob es jemand ernst meint“, sagt Korstian. Oder ob sich jemand davon nur Vorteile bei einem Gerichtsprozess verspricht. Auch der Haupttäter der Attacke auf das linke Sommercamp hatte während der Verhandlung seinen Ausstieg aus der rechten Szene beteuert, doch der Richter glaubte ihm kein Wort. Bei „Ikarus“ jedenfalls hat er sich nicht gemeldet, und selbst wenn: „Das wäre einer gewesen, bei dem wir mehr als genau hingeguckt hätten, wie ehrlich er es meint.“
Foto: Archiv
03.10 2010 dv
„